Woran mag Marcel Duchamp wohl gedacht haben, als er 1912 in seiner Wohnung in der Münchener Barerstrasse saß und darüber spekulierte, wie er die Malerei sprengen könnte. Die “Ölfaktorische Masturbation” - so bezeichnete er später die Fixierung der Kunstwelt auf Öl und Leinwand - wollte Duchamp revolutionieren und andere Ausdrucksformen erfinde. Dass dies sich fast zeitgleich mit der abstrakten Formenrevolution der Malerei des Blauen Reiter in der selben Stadt - vielleicht sogar nur einige Hunderte Meter voneinander entfernt - stattfand, in einer Straße, die ein halbes Jahrhundert später auch Rainer Werne Faßbinder als Kulisse seines ersten Lanspielfilms “Katzelmacher” dienen sollte, lenkt unsere Aufmerksamkeit vom autonomen Kunstwerk auf die psychologischen Funktionen des städtischen Raumes. Welche Rolle spielt dieser urbane Raum bei künstlerischen Entscheidungsprozessen?

Der öffentliche Raum als Stadtplan lehrt uns nichts über das kaum sichtbare Geflecht von Handlungsabläufen, Grenzen, Strukturierungen, Austauschhandlungen aller Art und den daraus folgenden intensiven Erfahrungen. Weder die Materialität noch die Monumentalität der Architektur ist Herausforderung für bildende Künstler, die sich entschieden haben, den weißen Kunstkubus zu verlassen, sondern die Zeichensysteme, Kommunikationskanäle, Sammlungs- und Treffpunkte. Das Ritual des Alltags zu beeinflussen, die pulsierende Vitalität anzuhalten und dessen Automatismen sichtbar zu machen, gelingt besser, wenn man den Kontext der urbanen Matrix kennt, der die Orte strukturiert. Die Bildsprache, die Szuper Gallery seit einigen Jahren für die Entkernung dieser Automatismen verwendete, ist die der Absurdität. Abgeleitet von Beckettianischen Performances, inszenierten sie Medienperformances, bei denen sich Darsteller und Kamera gegenseitig in die Augen schauen und in geschlossenes System bilden. Als Dekor ihrer Performances suchen sie häufig repräsentative Gebäude. Die Zentrale des Börsenkonzerns Bloomberg Media wie das Baureferats der LH Münchens. Die vier Mitglieder mes Kollektivs Szuper Gallery kratzen am Symbolwert dieser institutionellen Landschaft sowie an der glänzenden Oberfläche der “Corporate Image Strategie” der Finanzwelt. Ein subversiver, anarchistischer, absurder Humor kommt in ihren Selbst-Inszenierungen in Fotos oder Videoarbeiten zum tragen. Ob es die bizarre Sexualität der grünen Motorraduniformen der Polizei ist oder die “after-hours” dysfunktionalen Handlungen in der Schaltzentrale der Finanzwelt der Bloomberg Börsendatenagentur oder auch das Runtersegeln eines roten Tuches im Verwaltungsdebäude des Baureferats, - sie setzen mit ihren Inszenierungen einige unkontrollierbare absurde Choreografien in die Organisation, Effizienz und Logik der Macht. Ihre fiktiven Anspielungen auf Künstlerambitionen, Erfolg und hohe Preise - wie es der Name Szuper Gallery zu versprechen scheint - stehen im Gegensatz zur Tatsache, dass sie stets fehl am Platz sind als geniale Dilettanten in einem professionalisierten, effizienten Ambiente der SuperModernität.Vor wenig Jahren schrieb ich über diese Arbeiten: „Auch hier sprechen sie kein Wort, so als ob im Kontext ihres Auftretens der Umgang mit Sprache unmöglich sei …” oder auch „Personen sind ihrer Sprache, der sozialen Kompetenz und Interaktion beraubt, gerade weil in diesem System kein kommunikativer oder sozialer Austausch möglich ist.”

Der Sprache ihr Kommunikationspotential und ihre Physikalität mittels Performances oder der Arbeit im öffentlichen, sozialen Raum zurückzugeben, war die programmatische Entscheidung der Künstler. So wie Kunst eine vorsprachliche symbolische Form der Kommunikation ist, ist es eine Form von symbolischem Austausch, zweck- und zwanglos, und seit einem Jahrhundert gilt auch die Regel in der Kunst, systematisch gegen alle Regeln zu verstoßen. Um den Austausch zu erweiteren und nicht nur symbolisch sondern real ablaufen zu lassen, suchen sich Künstler andere Kanäle als die der vorhandenen Kunsträume, wo tatsächliche Interaktion möglich ist.

Duchamp

Schachtel im Koffer von Marcel Duchamp

Dass sich Szuper Gallery in einem Lift, einer kleinen Zelle, in diesem großen Verwaltungs- apparat installiert, wundert nicht. Nach meinen vorherigen Erläuterungen über ihr verspieltes Ankratzen an repräsentativen Symbolen ist die Wahl einer transparenten Zelle - die sicher eine Anspielung auf die neue demokratische politische Kultur und modernistische Klarheit ist - in hohem Grad symbolisch zu lesen. Sie ist Teil einer größeren Struktur und auch individuell zu nutzen, sie verhält sich autonom, wenn man es so nennen möchte, und man kann sich in dieser Zelle aufhalten und eine Choreografie des Alltags im Verwaltungsgebäude entwickeln. Auf- und Abstieg sind garantiert vorprogrammiert. Das „Archiv“ funktioniert wie eine parallele Institution zum Kreisverwaltungsreferat und versucht, eine parallele Erzählung des Ortes zu entwickeln. Es hat sowohl Symbol- wie auch Gebrauchswert. Struktur, Form und Inhalt sind überschaubar. Das Archiv bietet Unterhaltung und Ablenkung für die Besucher während der Wartezeiten.Weiter bietet es andererseits die Möglichkeit, sich mit verschiedenen Aspekten und Fragen der persönlichen Bedeutung des öffentlichen Raums auseinanderzusetzen, wie sie in ihrer Projektbeschreibung schreiben. Szuper Gallery sucht so einen Ort des möglichen Austausches, zieht jedoch eine klare Trennwand zwischen institutionellem und individuellem künstlerischen Territorium. Szuper Gallery bietet mit dem Liftarchiv eine neue Funktionsmöglichkeit an, es ist jedoch nur ein potentielles Angebot, eine Möglichkeit zur freien Verfügbarkeit. Der ausgewählte Ort des Kreisverwaltungsreferats ist besonders symbolisch, weil, wie Heinz Schütz im Katalog schreibt: „ Als öffentliche Erscheinung unterliegt die Kunst im öffentlichen Raum den Bestimmungen der öffentlichen Ordnung, gleichzeitig jedoch kommt ihr ein gewisser Sonderstatus zu. Das Recht auf freie Meinungsäußerung, dessen Ausübung vom Kreisverwaltungsreferat reguliert wird, und die gesetzlich garantierte Freiheit der Kunst überlagern sich zwar, die beiden Felder kommen jedoch nicht vollständig zur Deckung.“ Dieses Liftarchiv kann und soll auch gesehen werden als der Informationsort, an dem Künstlergruppen - wie Szuper Gallery - die seit mehreren Jahren selbstorganisiert in Netzwerken arbeiten, ihre eigenen Präsentationsorte organisieren, ihre nichtinstitutionelle „Nische“ im Inneren einer repräsentativen Struktur, und sich so einen Mikro- in einem Makro-Raum einrichten. Diese neuen Werkstrategien der Sichtbarkeit und der Distribution werden von diesen Künstlergruppen entwickelt, neben, mit und oft außerhalb das institutionellen Kunstbetriebs. Sie sind in ihren ephemeren Erscheinungen zu Amnesie verurteilt. So wird ein ganzes Spektrum der Kunstproduktion aus der Erzählung der Kunstgeschichte in den Museen ausgeblendet. Jetzt werden durch die Initiative der Szuper Gallery einige dieser Arbeiten und Praktiken zugänglich, indem an diesem Ort alle Dokumentation und Information in komprimierter Form verfügbar gemacht wurde. So wie Marcel Duchamp auch erst nach Jahren künstlerischer Tätigkeit darauf kam, selber sein bis dahin ignoriertes Werk um 1936-1941 im Archiv seiner „Boîte-envalise“ zu sammeln, so ist dieses Liftarchiv in der Kunstgeschichte zu verorten. Duchamps „Boîte-en-valise“ - die „Schachtel im Koffer“- enthielt nicht seine Werke, sondern Modelle aller früheren Werke in Miniaturformat. Die Anschauungsqualität der Arbeiten wurde umgedeutet zur Information. Sie waren nur Verweise auf die realen Werke, Meta-Zeichen. In diesem Sinne enthält das Liftarchiv sozusagen die „Boîte-en-valise“ der Münchner Kunstkommission. Vielleicht war der berühmte Archiv-Koffer genau eine der Lösungen zur Sprengung des „retinalen Kunstbegriffs“, an die Marcel Duchamp dachte, als er sich 1912 in die Meldebehörde Münchens als ausländischer Künstler zur Anmeldung begab.

“Box In Valise” (Erstes Bild) von ©MoMA under “fair use”