Archive dienen der Aufbewahrung von öffentlichen Urkunden und Dokumenten. Die Etymologie von Archiv weist auf das griechische archeion. In der Umschreibung von Jacques Derrida bedeutet archeion: „ein Haus, ein Wohnsitz, eine Adresse, die Wohnung der höheren Magistratsangehörigen, der archontes (…). Jenen Bürgern, die auf diese Weise die politische Macht innehatten und bedeuteten, erkannte man das Recht zu, das Gesetz geltend zu machen oder darzustellen. Ihrer so öffentlich anerkannten Autorität wegen deponierte man zu jener Zeit bei ihnen zu Hause, an eben jenem Ort, der ihr Haus ist (ein privates Haus, Haus der Familie oder Diensthaus), die offiziellen Dokumente.” 1 Die archontes sind die Bewahrer und Garanten der Sicherheit des Depots und: „Sie haben das Recht die Archive zu interpretieren.”2 Im Archiv überlagern sich Ort und Gesetz, Nomo- und Topologie. Desweiteren dient das Archiv, wie Derrida weiter herausarbeitet, der Konsignation, der Versammlung: „Unter Konsignation verstehen wir nicht nur im geläufigen Sinne des Wortes die Tatsache, daß ein Wohnort zugewiesen wird, oder daß etwas zur Aufbewahrung an einem Ort oder auf einem Träger anvertraut wird, sondern hier verstehen wir darunter den Akt des Konsignierens im Versammeln der Zeichen. (…) Das archontische Prinzip ist auch ein Prinzip der Versammlung.”3
Die Behörde, in deren Eingangshalle die Künstlergruppe Szuper Gallery das Liftarchiv einrichtete, definiert sich zwar LA #I Liftarchiv nicht vordergründig als Archiv, doch besteht eine ihrer Aufgaben durchaus darin, Dokumente für das Archiv zu produzieren. Darüberhinaus gibt es Berührungspunkte mit Derridas historischer Ableitung: In Anwendung der bestehenden Gesetze eignet dem Kreisverwaltungsreferat eine, wenn auch von Legislative und Judikative begrenzte, Interpretationsmacht. Diese Macht richtet sich nicht zuletzt auf die öffentliche Sanktionierung des Privaten, sei es nun Geburt oder Tod, Heirat oder Grundbesitz, sie richtet sich insbesondere auch auf das Aufenthaltsrecht. Die Stempel der Behörde funktionieren wie eine Eintrittskarte in den öffentlichen Raum, der nun keineswegs, was das Wort „öffentlich” suggeriert, für jedermann zu jeder Zeit zugänglich ist.
Das Liftarchiv geht mit dem Ort seiner Installation verschiedene Bezüge ein. Während das Kreisverwaltungsreferat für die öffentliche Ordnung zuständig ist, beschäftigt sich das Liftarchiv mit Kunst im öffentlichen Raum, einem Phänomen, das sich in den letzten beiden Jahrzehnten im Diskurs der Kunst zunehmend etablierte. Als öffentliche Erscheinung unterliegt die Kunst im öffentlichen Raum den Bestimmungen der öffentlichen Ordnung, gleichzeitig jedoch kommt ihr ein gewisser Sonderstatus zu. Das Recht auf freie Meinungsäußerung, dessen Ausübung vom Kreisverwaltungsreferat reguliert wird, und die gesetzlich garantierte Freiheit der Kunst überlagern sich zwar, die beiden Felder 98 kommen jedoch nicht vollständig zur Deckung. Das Liftarchiv ist das, was es thematisiert: Kunst im öffentlichen Raum. Es entstand im Rahmen klassischer Kunst-amBau-Maßnahmen auf Empfehlung der städtischen Kunstkommission und stellt in München ein Novum dar, insofern es sich hier nicht um ein abgeschlossenes Werk handelt, sondern um ein strukturales, bespielbares Objekt, das als Archiv im Laufe der nächsten Jahre immer wieder neu bestückt und von Veranstaltungen begleitet wird und dabei den öffentlichen Dialog sucht. Der historische Ausgangspunkt von Kunst im öffentlichen Raum bestand darin, dass Künstler und Künstlerinnen Museen und Galerien verließen, um sich jenseits der institutionalisierten Kunsträume womöglich kontext- und ortsspezifisch zu verankern. Im Widerspruch hierzu – zumindest auf den ersten Blick – beharrt Szuper Gallery mit dem Liftarchiv auf dem autonomen Kunstraum. Ein parallel zum Liftarchiv entwickeltes Projekt von Szuper Gallery besteht in einem Wettbewerb, in dem sie Architekten aufforderten, einen transportablen Galerieraum zu erfinden. Das Gehäuse des Liftarchivs stellt ein Derivat des „White Cube” dar, des abgeschlossenen, auf Autonomie bedachten und möglichst neutralen Kunstraumes. Die dialektische Pointe des Liftarchiv besteht nun darin, dass es den „White Cube” in einen „Glass Cube” verwandelt: Das Liftarchiv ist zum einen autonom und abgeschlossen, zum anderen jedoch transparent, funktional und ortsspezifisch mimetisch.
Der auf den Lift montierte Glaskubus greift die Transparenz der gläsernen Eingangshalle auf, so dass das Archiv nicht nur von der Halle, sondern auch von der Straße aus einsehbar ist.Wenn das Archiv nach oben gefahren wird, handelt es sich um einen nicht betretbaren Raum. In dieser Position spielt es mit dem idealistischen Kunstverständnis, das Kunst in der Höhe einer erhabenen Geisteswelt ansiedelt, in einer idealistischen Höhe, die durch den Mechanismus des Liftes konterkariert wird. Im hochgefahrenen Zustand kann der Raum nicht betreten werden. Er ist dann Schaufenster des Archivs, funktioniert aber in diesem Zustand wie das dreidimensionale Bild eines Raumes, der mit seinem Mobiliar an ein Besprechungszimmer erinnert und ein Moment von Privatheit transportiert. In der Halle des Kreisverwaltungsreferates wirkt das Zimmer im Glaskasten wie ein Implantat und doch nimmt es als Archiv auf das Archivarische der Behörde Bezug. Diese sozusagen autonome Bezugnahme auf den vorgegebenen Kontext entspricht einer künstlerischen Strategie von Szuper Gallery, die sie bereits in verschiedenen anderen Kontexten verfolgte und die darauf zielt, die in den Kontexten verkörperte Macht zu irritieren. In der Münchner Börse etwa ließen sie englische Texte des Börsengurus Georges Soros von zwei nicht englisch sprechenden, ukrainischen Kindern sprechen, in den Räumen der Londoner Finanznachrichtenagentur Bloomberg agierten sie so, dass ihre sinnlos erscheinenden Handlungen in Kontrast zur ökonomischen und medialen Rationalität der Umgebung standen.
Die scheinbare Absurdität der Aktionen affizierte die Umgebung, wobei am Ende unklar blieb, wer eigentlich irrational ist, die Umgebung oder die Akteure. Als Schlüsselarbeit zum Verständnis dieser künstlerischen Strategie kann eine Fotoserie betrachtet werden: Sie zeigt die KünstlerInnen der Galerie Szuper in Polizeiuniformen – Lederkleidung, wie sie die Motorradpolizei trägt – in einem privaten Wohnraum. Die in der Polizei verkörperte öffentliche Macht prallt auf die private Umgebung. Die Posen der PolizistInnen lassen sich allerdings nicht entschlüsseln. Üben sie ihren Beruf aus, entspannen sich sie, posieren sie als Modells? Die Anwesenheit öffentlicher Macht in der privaten Umgebung produziert hier eine unauflösbare Irritation. Die Interpretationsmacht, auf der Archive gewöhnlich basieren, erweist sich in dem so produzierten hermeneutischen Ausnahmezustand als ohnmächtig. Das Mobiliar des Liftarchivs verleiht ihm andeutungsweise private Züge. Diese Privatheit drängt im Foyer des Kreisverwaltungsreferates zur Öffentlichkeit. Das latent Geheime des Archivs wird durchbrochen. Was Derrida in Bezug auf die Versammlung der Zeichen im Archiv feststellt, findet eine spezifische Wendung hin zu einer Versammlung von Personen. Durch seine Zurschaustellung wendet sich das Liftarchiv an die Öffentlichkeit, ebenso durch seine Eröffnungsveranstaltungen und nicht zuletzt durch das Internet. Eine Website im Kreisverwaltungsreferat erlaubte die dialogische Partizipation, sie wiederum soll zu einem Bestandteil des Liftarchivs werden.
Dieser Text stammt aus dem Buch Liftarchiv, ©Copyright 2007 Szuper Gallery, herausgegeben von Revolver ISBN 978-3-86588-403-9